Sommer 2022

Je älter ich werde, desto schöner die Jugenderinnerungen. Das ist sicher eine Alterserscheinung, denn die Zeit als Jugendlicher war ja nicht nur leicht und froh, sondern auch geprägt von Unsicherheit, Langeweile, Ödnis, Geldmangel – wie könnte es anders sein. Aber auf meinen Zeitreisen in die Vergangenheit begegnen mir immer wieder Figuren und Gesichter aus den 68er-Jahren in Wetzikon, mit denen ich vor allem gute Erinnerungen verbinde. Vor einiger Zeit schon erwachte darum der Wunsch, die Erinnerungen aus dem Kopf in die reale Welt zu holen, um zu erfahren, wie sich das anfühlt, wenn man ihnen heute begegnet. Was würde noch übrig sein von dem, das damals so vertraut schien? Gibt es überhaupt noch etwas Verbindendes, oder sind alle längst über die Jugendjahre hinweg, sind erwachsen geworden, leben ihr heutiges Leben mit wenig Zeit und Interesse für Erinnerungen. Meine Zweifel erwiesen sich glücklicherweise als unbegründet: Die Treffen waren rasch vereinbart, die Gespräche verliefen herzlich bis fröhlich. Es kam darin viel Vergangenes zum Vorschein, das ich vergessen hatte, und all das Neue, das seither das Leben bestimmt hat.

Während der Gespräche entstanden Porträts, die ich hier präsentiere, zusammen mit dem Versuch, aus den 12 Begegnungen dieses Sommers etwas von dem zu rekonstruieren, was mir wertvoll und besonders erscheint. Sehr vieles bleibt hier unerwähnt – ich hoffe, dass man dies verzeiht und wünsche mir viele ausführliche Kommentare (s. unten) zur Vervollständigung des Bildes.

Wetzikon damals

Statt eines Dorfzentrums gab es entlang der Bahnhofstrasse zahlreiche und nicht besonders einladende Beizen, ausserdem zwei Kinos und das Kaufhaus Monopol. Dorthin ging ich, um der Langeweile zu entgehen und weil man fast sicher jemanden treffen konnte, um gemeinsam Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Am Wochenende waren die Kunsteisbahn angesagt, ausserdem gab es ein Jugendhaus irgendwo abseits am Dorfrand mit live Musik, und Rockkonzerte mit den lokalen Bands an der KZO und im Hotel Leuen. Zum Schmusen und Rauchen bot sich der nahe Kirchenpark an, wer Schachspielen wollte ging ins Cafe Frauenfelder. Dann gab es natürlich die Chnelle, über die man ein ganzes Buch schreiben könnte….
Das einstige Dorf ist jetzt eine Stadt geworden, mit doppelt sovielen Einwohnern wie damals. Auf früher unbebauten Brachen stehen neue Wohnquartiere, zu denen Strassen führen, die zwar noch gleich heissen aber vollkommen anders aussehen. War es früher besser? Schwer zu sagen, denn als Jugendlicher hat mich wenig interessiert, in welcher Umgebung ich lebte. Wetzikon war einfach das Zuhause, und ist es immer noch für viele von denen, die ich besucht habe.

Die grosse Veränderung

Die Ereignisse der Jahre um 1968 erfassten rasch auch das verschlafene Dorf. L‘imagination au pouvoir, ein Slogan auf den Mauern des „quartier latin“ in Paris, passt genau auf die Aufbruchstimmung damals. Rebellion lag in der Luft, Aufstand gegen die angepassten Autoritäten – Lehrer, Eltern, Lehrmeister. Antiautoritäte Schulmodelle kamen in Mode, Vietnam war allgegenwärtig. 1971 wurde das Frauenstimmrecht eingeführt. Alles Selbstverständliche geriet in Bewegung – nicht nur für die Jungen, sondern ebenso für viele Erwachsene, die den neuen lifestyle ablehnten. Eigene Entscheidungen zu treffen wurde wichtiger als einem vorgezeichneten Karriereweg zu folgen.

Man trug lange Haare, rauchte heimlich Joints und überall sonst und ständig Zigaretten. Liebe war neu und süss, die Enttäuschungen dann umso herber. Manche hatten ein Töffli, eine BMW 52er oder einen Döschwo, das Prinzip ÖV noch unbekannt. Die neuesten Schallplatten waren heiss begehrte Objekte, die man nur an gute Freunde auslieh. Protest ja – Gewalt nein: Alle glaubten an den gewaltlosen Widerstand. Love and Peace. Die Musik war laut, half über die seelischen Tiefs und und beflügelte die Hoffnung auf eine andere Zukunft.

Schnellvorlauf ins Jahr 2022: Die Teenager aus dem Wetziker Kuchen sind erwachsen geworden. Wer hätte damals gewagt vorauszusagen, dass sie alle in den unterschiedlichsten Berufen – als Lehrer, Pfleger, Anwälte, Musiker, Therapeuten, Trainer, Unternehmer, Politiker, Theologen erfolgreich sein würden?

Schon etwas mitgenommen von den Jahren, wie könnte es anders sein, sind sie zu Persönlichkeiten geworden, mit denen ich mich gerne und lange nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die aktuellen Fragen des Lebens und der Welt unterhalten habe. Alle ohne Ausnahme können stolz sein auf das, was sie auf nicht immer einfachen Wegen aus ihrem Leben gemacht haben.

Der Sommer 22 ist zu Ende, die guten Erinnerung an die Begegnungen mit den Old Friends bleiben. Der Ernst des Lebens hat wohl seine Spuren hinterlassen auf ihren Gesichtern, aber man kann immer noch gemeinsam fröhlich sein und lachen wie früher. Und: sie haben sich alle verändert und doch erkenne ich in allen wieder etwas von dem alten Geist. Es scheint auch, dass sie sich alle am Leben freuen, vielleicht mehr als je zuvor? Manche arbeiten weiter in ihren Berufen, andere haben sich neuen Projekten zugewandt, für die sie früher keine Zeit hatten. Mit den einen oder anderen ergeben sich vielleicht weitere Begegnungen, man wird es sehen. Auf jeden Fall bleibe ich gespannt, wie die Geschichten weitergehen….

zusammengestellt von Pierre aka Mürel

Comments

  1. Aus der gegenwärtigen Befindlichkeit in die Vergangenheit zu schauen, kann einiges auslösen. Was haben wir bewahrt, was haben wir revidiert, was haben wir dazugelernt? Haben wir das gefunden, was wie (teilweise verzweifelt) gesucht haben: Uns selbst? Wie du schreibst, scheint dies der Fall zu sein (was wohl wesentlich mehr ist als ein „Happy End“). Ein Zusammentreffen in irgendeiner Form wäre natürlich grossartig! Was da an Geschichte(n) zusammenkommen könnte wäre eine abendfüllende Doku wert! Aber bleiben wir am Boden: schon dieses knappe Statement tut einfach gut und lässt unsere alten Herzen runder schlagen.

  2. Als verlorener Sohn und Zurückgekommener – oder eher Zurückgelassener? – sind diese Reflexionen über meinen Wohnort Wetzikon und seine illustren BewohnerInnen mehr als amüsant und informativ: Sie sind das Leben schlechthin, mehr haben wir nicht. Ja, eine Zusammenkunft all dieser Auserwählten wäre grossartig und der Gedanke daran macht das Herz warm. Ich würde mich sehr darauf freuen.

  3. Erinnerungen punktuell
    im Austausch grossflächig werden lassen
    und den Bogen
    zum Hier und Jetzt schlagen

    ein Treffen würde mich sehr freuen
    Dir ein herzliches Dankeschön für den Rück- und Ausblick
    herzlich
    ursi

    1. Welch schöne Idee, „WETZIKON 1968“ in Form einer Begegnungsrunde mindestens temporär wieder ins Leben zu rufen! Ich bin voller Vorfreude auf deren Realisierung! Und voller Dankbarkeit für die Initiative, die Pierre dazu ergriffen hat!

  4. Erinnerung: Wenn ich gelegentlich meine Vinylplatten-Sammlung vom Staub befreie, reicht es mir, die Covers zu betrachten (habe keinen Plattenspieler mehr) und die Erinnerungen leben sofort wieder auf. Ich höre in meinem Hinterkopf die verrückten Free-Jazzer, Flower-Power-Romantiker, Hard- und Soft-Rocker, Südstaaten-Blueser …
    Zu viert fuhren wir mit unseren Töfflis jeden Morgen nach Uster zum Zellweger in die Lehre, grüne Ami-Jacken, Easy-Rider-Groove. Die Jacken mit Einschusslöchern (trotz Love and Peace) waren besonders begehrt. Man kriegte sie in Konstanz – den Weg dorthin nahm man auf sich. Alle vier gaben die Lehre bei Zellweger auf. Und tschüss! Temporäre Jobs. Südfrankreich, Marokko, Griechenland … die weite Welt ruft! Dann die Flucht aus dem elterlichen Zuhause, Flucht vor dem polizeilichen Hasch-Jäger, vor dem Coiffeur und Flucht vor weiss-ich-was und überhaupt.
    Die Zeit von damals ist so fern und plötzlich wieder nah, – Schnitt – die Kinder sind ausgeflogen, und ich, mit Einfamilienhaus und Weber-Kugelgrill immer noch in Wetzikon, bleibe auf Empfang.
    Freue mich auf ein Nachtessen!

    1. Grossartiger Kommentar! Easy Riding durchs Aathal mit dem Hödi und mit Armyjacke, meine zwar ohne Einschussloch, aber auf der Flucht war ich trotzdem, und wusste genausowenig vor was eigentlich. Heute denk ich: vor mir selber?

  5. Bravo, Mürel – Ernst des Lebens und eben doch Lachen!
    Die Zeit läuft schneller als je zuvor –
    Wer mag einladen mit oder ohne Kugelgrill? Bin dabei.

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