bookmark_borderEntscheiden-nachdenken

Nachdenken setzt voraus, dass wir uns zuvor entschieden haben, worüber wir nachdenken wollen.

Die Entscheidung, meine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand zu richten (und also alle anderen auszublenden) kann ich durch Abwägen, Prüfen, Hinterfragen aufschieben, bis zum Punkt, wo eine andere Stimme eingreift und sagt: Genug mit dem Hin- und Her, so machst du das jetzt!

Intuition, innerer Dämon, Glaube odere wie auch immer man das nennen mag – jedenfalls ist es nichts, was mit Vernunft zu tun hat, das den Ausschlag gibt für unsere intellektuellen Präferenzen, keine nachvollziehbare Logik, die zwingend zu diesem oder jenem Resultat führen würde.

Aus dieser Erkenntnis folgen für mich zwei Dinge:

Erstens, einer einmal getroffene Entscheidung, sich mit etwas gedanklich eingehender zu befassen muss man die Chance geben, sich zu bewähren. Man muss ihr Zeit geben, ihr Wirken beobachten, die Schwierigkeiten wahrnehmen und Lösungen suchen, sie anpassen auch an sich verändernde Bedingungen.

Zweitens, Entscheidungen können sich als falsch herausstellen, dann müssen die aus ihr folgenden Denkweisen aufgegeben werden. Dies wird umso schwerer fallen, je länger man mit ihnen gelebt hat, aber Sich-Trennen-Können ist eine überlebenswichtige Fähigkeit. Es hilft, jederzeit eine gewisse Distanz zu bewahren zu den eigenen Praktiken. Man sollte immer sagen können: Ich mach das jetzt mal so, aber letztlich gibt es keine Garantie, dass es richtig ist oder zum Erfolg führt.

Wie vergangene Entscheidungen sich in der Realität bewähren ist lehrreich. Wenn etwas nicht funktioniert hat, gilt es das anzunehmen ohne sich Vorwürfe zu machen. Denn was getan wurde kann ja nicht rückgängig gemacht werden. Die Ökonomen reden von “sunk cost” – das Geld wurde ausgegeben und kommt nicht wieder. Und umgekehrt ist es ratsam, Erfolge ebenso so ruhig und kühl zu betrachten und sich zu sagen: ich habe mein Bestes gegeben, aber Erfolg ist letztlich Glückssache und hängt nur zu einem kleinen Teil von meinen Handlungen ab.



bookmark_borderErinnern heisst erfinden

Erinnerungen sind Momentaufnahmen. Eine Schulstunde vor 60 Jahren, der Lehrer fragt, einige recken die Hand hoch, jeder durfte etwas beitragen, am Schluss der Stunde war ein schönes Bild auf der Tafel mit Regenwolken, Sonne, Schnee, vom Lehrer mit Sorgfalt von Hand gezeichnet.

Diese Erinnerung ist lückenhaft und sehr verschwommen. Ich kann sie aber sprachlich so fassen, dass sie mir konkret vorkommt. Ich kann sie noch weiter ausschmücken: durch die Fenster des Schulzimmers sah man auf eine Wiese, der Lehrer rauchte in der Pause Zigaretten, die braven Schülerinnen sassen in der ersten Reihe…je länger ich nachdenke, desto mehr Einzelheiten fallen mir ein.

Wenn ich solche Momente hintereinander setze, erhalte ich eine Geschichte – meine eigene Biografie. Sie ist in sich geschlossen und lässt das Heute als einen letzten Punkt in der langen Reihe von Ereignissen erscheinen, die alle irgendwie sinnvoll zusammenhängen, die letztlich das ergeben, was ich bin.

Aber: die Geschichte bin nicht ich. Schon die Auswahl der Erinnerungen folgt meiner gegenwärtigen Stimmung. Bin ich traurig, tauchen andere Bilder auf als wenn ich mit meinen Leistungen von früher angebe. Begegne ich einem Freund aus der guten alten Zeit, der heute schon zerbrechlich wirkt, ändern sich sofort auch die Bilder aus der Zeit, als wir zusammend die Schulbank drückten.

Erinnern ist also eigentlich ein Erfinden – Phantasieren, Spekulieren, Zusammenhänge schaffen zwischen Eindrücken, die ich selber auswähle gemäss meiner aktuellen Verfassung als Autor.

Ich muss achtgeben, meine Fiktionen nicht mit der Realität zu verwechseln. Denn was hier fehlt ist die Sicht der anderen auf diese früheren Momente der Biografie. Aus Erfahrung weiss ich, dass sie häufig im Kontrast stehen zu meinen eigenen. Die Eindrücke der anderen sind der Prüfstein für mein eigenes Urteilsvermögen, für die geistige Frische und die Zuverlässigkeit des Denkens. Denn ich weiss, dass meine Erinnerungen je länger desto unzuverlässiger werden. Sie geben mir ein trügerisches Gefühl von Dauer, die sich jederzeit in Nichts auflösen kann. Kein Vergangenes kann sich sicher sein vor der Gegenwart (T.W.A).

bookmark_borderDie Furcht zu irren

Wer wissen will, muss den Irrtum wagen. Er muss scheitern können, immer wieder, bis sich Gewissheit einstellt. Dazu braucht es Mut, Durchhaltewillen, Phantasie. Hegel meinte in seiner Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, »daß die Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist«. Und nach Kant sind am unaufgeklärten Geisteszustand vor allem des Menschen eigene »Faulheit und Feigheit« schuld.

Es braucht zum Denken zwei Dinge: Verstand und Vernunft. Verstand ist die Fähigkeit, die Dinge nüchtern zu betrachten, in ihre Einzelteile zu zerlegen, zu ordnen und sie einzusortieren in das Gedankengebäude. Die Vernunft setzt dem endlosen Analysieren und Einordnen Grenzen. Sie setzt Prioritäten, entscheidet darüber, was wichtig ist und sich weiterzuverfolgen lohnt, und lässt das andere in den Hintergrund treten.

Dank des analyischen Verstandes zerfällt die Welt in selbständige Einzelteile, die sich nicht wieder zusammenfügen lasssen. Zum Beispiel: Wir analysieren den Menschen als aus Körper und Geist bestehend. Aber wie fügen sich die beiden Teile zu einem ganzen Menschen? Die Frage hat die Philosophen lange beschäftigt. Aber das Problem des “ganzen Menschen” ist nur ein Resultat der vorgängigen analytischen Reflexion – ein Scheinproblem, eine falsche Frage. Manche ziehen daraus den Schluss, dass wir aufhören sollten mit dem Analysieren – dabei reicht es zu verstehen, dass der Verstand seine Grenzen hat.

Wir brauchen die Vernunft, um die Bedeutung abzuwägen, die wir den Fakten zumessen, und Geschichten zu schreiben, die Einzelereignisse zu grösseren Zusammenhängen verbinden.



bookmark_borderFalsche und richtige Fragen

Auf gute Fragen können wir, wenn wir Glück haben, befriedigende Antworten finden. Zumindest lohnt sich der Aufwand des Nachdenkens, auch wenn der Erfolg natürlich keineswegs garantiert und der Zeitaufwand für die Lösungen manchmal grösser ist als erwartet.

Aber nicht jede Frage ist eine gute. Es gibt solche, die meiner Erfahrung nach nur immer zu neuen Fragen führen, aber niemals zu klaren Antworten. Vor solchen Fragen muss man sich hüten, denn das Nachdenken oder Diskutieren darüber ist reine Zeitverschwendung. Hier eine kleine Auswahl – die Liste liesse sich sicherlich noch verlängern, aber die Idee sollte aus den folgenden Beispielen klar werden:

Erstens die “grossen Fragen”, die seit ewigen Zeiten gestellt werden. Ob es den lieben Gott gibt oder nicht. Wie man glücklich wird im Leben. Was überhaupt der Sinn des Lebens ist. Wo das Unendliche anfängt oder aufhört. Was Denken sei (wenn es denn stattfindet) und dergleichen mehr. Die Antworten dazu, von Philosophen, Mönchen und Stammtischliteraten, füllen ganze Bibliotheken. Klüger ist davon noch keiner geworden.

Zweitens die Fragen nach dem Wesen oder der Substanz von gedanklichen Dingen, von Ideen, Konzepten, Glaubenssätzen. Man achte auf Wörter wie “wesentlich”, “erheblich”, “zentral”. Wer wesentliches sagt, will damit vor allem die Ueberlegenheit seiner Kompetenz beweisen. Das Wesen des Kapitalismus, die Natur des Menschen, der Charakter eines Volkes – darüber lässt sich auch in hundert Jahren noch reden und nichts sagen.

Dazu gehören auch Abhandlungen über die grundsätzlichen Ursachen der Übel der Welt.  Die Annahme ist dort immer, dass “grundsätzlich Gerechtigkeit, Wohlsein und Glück” herrschen sollten. Was vergessen geht: naturgemäss gibt es weder Gerechtigkeit noch Glück oder Gesundheit: das sind alles zivilisatorische Leistungen, die ständig zu erneuern sind. Wo das nicht geschieht oder nicht möglich ist, fallen die Menschen zurück in den Naturzstand, der selten ein glücklicher ist.

Gute Fragen scheinen mir dagegen solche von der Art, die auch Handeln ermöglichen. Es sind eher kleine, der kurzen Spanne und den begrenzten Möglichkeiten des Lebens angepasst:

  • Wie umgehen miteinander?
  • Was muss ich tun, damit ich selbstbestimmt leben kann?
  • Wie wehre ich mich gegen die Angst, weniger zu sein als die anderen?
  • Was ist mir heute gelungen?

bookmark_borderman liest

Man liest in einer Rezension die lobenden Worte vom “unbequemen Denken” eines Autors, und man fragt sich: warum soll das gut sein, unbequemes Denken? Gleiches gilt für die Formel “er macht es seinen Lesern nie einfach” – als ob es eine grosse Kunst wäre, Leute zu verwirren.
Das Problem scheint darin zu liegen: bequem und einfach stehen im schlechten Ruf der Kleinbürgerlichkeit. Und deshalb erreicht der unbequeme Autor, der es seinen Lesern nicht zu einfach macht, vor allem eine eingeweihte Klientel von Intellektuellen, die sich gerne selber quälen.